Freitag, 4. Februar 2011

Böckler Impuls 02/2011:Bildungstradition hält Praktiker von Uni fern


Nur wenige gelangen über den zweiten oder dritten Bildungsweg an die Hochschule. Einer Öffnung der Unis für Menschen mit Berufserfahrung statt Abitur steht die deutsche Bildungstradition entgegen.
Wer die Regelschule ohne Abitur verlassen hat, hat es schwer, einen akademischen Abschluss zu erreichen. Nur knapp fünf Prozent der Studenten an Universitäten und Fachhochschulen haben ihre Studienberechtigung auf dem zweiten oder dritten Bildungsweg erworben. Also etwa das Abitur an einem Abendgymnasium nachgeholt oder eine Uni-Zulassung aufgrund ihrer praktischen Berufserfahrung bekommen. Eine bildungshistorische Studie verdeutlicht, was dem nachträglichen sozialen Aufstieg in akademische Kreise bisher im Wege steht. Vor allem ein tradierter Bildungsbegriff: Während praxisferne Allgemeinbildung hohes Ansehen genießt, wird Berufsbildung geringer eingestuft, so die Autorin Elisabeth Schwabe-Ruck.

Aktuelle Bemühungen, durch eine Öffnung der Hochschulen mehr Chancengerechtigkeit und eine höhere Akademikerquote zu erreichen, hält die Wissenschaftlerin für wünschenswert, aber schwierig: Potenziell berge das Streben nach einem gesamteuropäischen Bildungssystem zwar die Chance, das "deutsche Bildungsschisma" zu überwinden. Im Idealfall würden zweiter und dritter Bildungsweg so zu einem "integralen Teil eines zumindest perspektivisch gesehen durchlässigen lebenslangen Bildungsweges". Doch die Erfahrung zeige, dass das traditionelle Bildungssystem große Widerstandskräfte entfalten könne.

Zweiter Bildungsweg: Lückenbüßer bei Fachkräftemangel. Mit Bildungsangeboten, die Erwachsene ohne am Gymnasium erworbenes Abitur zum Studium führen sollten, wurde bereits in der Weimarer Republik experimentiert. Eine wichtige Triebfeder dabei: der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften nach dem Ersten Weltkrieg. So entstanden Tages- und Abendschulen, die Abiturkurse anboten. Während der Naziherrschaft wurde der Übergang von Fachschulen zu Hochschulen erleichtert, um für die Rüstungsindustrie technische Fachkräfte auszubilden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es in der Bundesrepublik darum, politisch unbelastetes und qualifiziertes Fachpersonal für Wirtschaft und Verwaltung zu finden. Daneben trat das Ziel, durch mehr Chancengleichheit im Bildungssystem die Demokratisierung der Gesellschaft voranzubringen. Der zweite Bildungsweg wurde vor allem in Form von Abendgymnasien und Kollegs institutionalisiert. Zudem besteht die Möglichkeit, nach einer Eingangsprüfung direkt ein Studium aufzunehmen; dieser dritte Bildungsweg spielt quantitativ allerdings bis heute kaum eine Rolle.

Rückblickend resümiert Schwabe-Ruck: "Alternative Bildungswege rücken immer dann ins Zentrum bildungspolitischer Diskussion, wenn durch die traditionelle Bildungselite dem Bedarf an hoch ausgebildeten beziehungsweise politisch opportunen Fachkräften nicht entsprochen werden kann." Angebote des zweiten Bildungswegs hätten daher meist eine Lückenbüßerfunktion gehabt. In größerem Umfang sind Menschen, die nicht den Standard-Bildungsweg absolviert haben, an den Hochschulen immer nur in historischen Ausnahmesituationen zum Zuge gekommen. Seit den 1960er-Jahren ist der Anteil der Studenten, die über den zweiten Bildungsweg an die Uni kamen, praktisch gleich geblieben.

Berufspraxis: Bildung zweiter Klasse. Das 1834 in Preußen eingeführte, stark von Humboldts neuhumanistischen Vorstellungen geprägte Abitur ist bis heute maßgeblich für die Zulassung zu höherer Bildung. Kennzeichnend für den damit verbundenen Bildungsbegriff war "die besondere Wertschätzung der alten Sprachen und reziproke Nichtachtung von berufspraktischen, vor allem technischen und naturwissenschaftlich ausgerichteten Fächern", so Schwabe-Ruck. Bis heute wirke diese Sicht nach. So finde im dreigliedrigen Schulsystem eine "gleichermaßen sehr frühe und sehr entschiedene Trennung in praxisnah berufsvorbereitendes und theoriebetont allgemein bildendes Lernen" statt. Dieses Bildungsschisma sei fest in den Köpfen verankert: Selbst Menschen, die sich auf den zweiten Bildungsweg begeben haben, legen der Forscherin zufolge meist Wert darauf, dass das nachgeholte Abitur sich eng an den Stoff des ersten Bildungswegs anlehnt - anstatt auf die Anerkennung ihrer praktischen Erfahrung im Betrieb zu pochen.

Einer "gleichberechtigten Positionierung" verschiedener Hochschulzugänge stünden also hohe Hürden entgegen. Vom Bologna-Prozess inspirierten Plänen, beruflich erworbene Kompetenzen anzuerkennen und Ausbildungsberufe zu akademisieren, räumt Schwabe-Ruck dennoch gewisse Chancen ein. Gerade angesichts stagnierender Studentenzahlen und eines steigenden Bedarfs an Fachkräften. Allerdings bestehe auch die Gefahr, dass es bloß zu Verschiebungen komme - und sich beispielsweise der Übergang vom Bachelor zum Master zu einem neuen Nadelöhr entwickeln könnte, an dem sich gymnasial und beruflich Vorgebildete scheiden.

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